Komplexität und Erkenntnis:
[Welchen Teil von ‚Vielleicht' hast du nicht verstanden?] |
![]() Die Menge an den in I erwähnten Alternativen zu der gewählten Selektion ist proportional zum Maß an Komplexität. Gerade weil die Menge an Alternativen zu dieser ersten Selektion in unstrukturiertem, neuem Material nicht überschaubar ist, erscheint auch das Risiko entsprechend hoch. Laut den Grundüberlegungen von Norbert Bolz in "Die Welt als Chaos und als Simulation" ist eine solche erste Komplexitätsreduktion durch eine erste willkürliche Selektion die Benennung eines unbestimmten, strukturlosen Zustandes mit dem Terminus "Chaos".[6] Gerade dies zeigt aber, womit diese Strukturierung eng verbunden ist: Die Neuerschließung von bisher nicht bearbeiteten Informationsmengen beinhaltet für die erste Strukturierung ein hohes Maß an Entscheidungsalternativen. Dies beinhaltet wie beschrieben ein hohes Maß an Risiko. So weist Bolz hier bewusst auf den beruhigenden Charakter dieser ersten Benennung hin: Der Schrecken der Komplexität liegt bei der Neuerschließung gerade in der Strukturlosigkeit. Es handelt sich also nicht um eine negative Bewertung der Komplexität an sich sondern um eine zunehmend negative Bewertung des Risikos bei einem tendenziell steigenden Maß an Entscheidungsalternativen. Die negative Bewertung nimmt proportional zum steigenden Risiko zu und drückt sich in einer tatsächlichen und/oder gefühlten Machtlosigkeit bzw. fehlenden Einflussmöglichkeit aus. [7] Komplexitätsreduktion erfüllt also auch die Funktion die mit der Menge an Entscheidungsalternativen, und somit mit der Höhe des Risikos, korrelierende negative Bewertung -kurz: Die Angst vor Kontrollverlust- psychologisch zu kanalisieren.[8] Obwohl man durch eine Benennung keine direkte Kontrolle über den strukturlosen Zustand erlangt, erfüllt die Komplexitätsreduktion dennoch ihren Zweck. Eine Angst die benannt werden kann ist immer noch besser als ein namenloser Schrecken.[9] ------------------------------------------------------------------ 6 Bolz, Die Welt als Chaos und als Simulation S. 27. 7 Bei Blumenberg wird dies mit "Absolutismus der Realität" bezeichnet. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 9. 8 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 68. 9 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 11. |
Bei Blumenberg sind es vor allem archaische und antike Gesellschaften für die diese in II beschriebene psychologische Komponente der Komplexitätsreduktion durch Benennungen und Zuschreibungen (also in Form von Mythen und der beginnenden Ausformung von Religion) von Bedeutung ist. Die proportionalen Verbindung von Risiko und Komplexität bewirkt ein vorantreiben der Komplexitätsreduktion. Dieses Vorantreiben der Komplexitätsreduktion ist ein Resultat der negativen Bewertung von Risiko. Je größer die Komplexität, desto größer das Risiko. Je mehr Risiko, desto negativer die Bewertung. Im Umkehrschluss zu Blumenberg kann also angenommen werden dass mit steigender Komplexität und somit steigendem Risiko, die psychologische Komponente der Komplexitätsreduktion tendenziell an Bedeutung gewinnt. Dieses Risiko, und somit die negative Bewertung, ist besonders hoch, wenn die Verarbeitungskapazität überfordert wird und sich Komplexität schneller aufbaut als diese durch Komplexitätsreduktion verarbeitet werden kann. Gerade in einem solchen Fall kann der gefühlte oder tatsächliche Kontrollverlust prinzipiell zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte auf ein Maß ansteigen, das Blumenberg zunächst nur den archaischen Gesellschaften zuschreibt.[10]Wie unter III beschrieben muss die psychologische Kanalisierung von negativen Bewertungen des Risikos nicht zwangsläufig zweckdienlich im Hinblick auf eine aktive Kontrolle sein, so lange sie psychologisch wirkungsvoll die negative Bewertung von Risiko kompensieren. Auch wenn sich die alten Mechanismen im Hinblick auf Kontrolle und aktive Einflussnahme als unzureichend erweisen heißt das noch nicht, dass man sich von ihnen löst. Bei einem hohen Maß an Komplexität steigt die Angst sich von solchen Strukturen zu lösen proportional zur Höhe der Komplexität. Die Illusion von Kontrolle wird als besser empfunden als ein Neuanfang mit ungewissem Ausgang. Gerade Mechanismen, die psychologische Angst vor Risiko kompensieren sollen, können auch genau das Gegenteil ihrer ursprünglich angedachten Funktion bewirken. Dies gilt für menschliches Ordnungsdenken, das als Ordnungsgedanken hinter die menschliche Lebenswelt gesetzt wird: |
"Nach wie vor gilt die Auffassung, dass der vernunftbegabte, erkenntnisfähige Organismus in eine strukturierte Welt geboren wird und dass es darum zur Aufgabe des denkenden Menschen gehört, Strukturen und Gesetze jener von ihm prinzipiell unabhängigen Welt zu ‚erkennen'."[11] So aber werden nur Probleme des menschlichen Ordnungsdenkens auf die menschliche Lebenswelt projiziert.
Wie selbstverständlich werden verbindliche allgemeingültige Strukturen vorausgesetzt und Erkenntnisfähigkeit soll tendenziell hin zu einer Eindeutigkeit vorangetrieben werden. Das Maß von Erkenntnisfähigkeit sind aber keine von außen vorgegebenen objektiven Strukturen. Erkenntnisfähigkeit misst sich stattdessen an ihrer Brauchbarkeit im Hinblick auf die Orientierung. Hierzu ist es nicht zwangsläufig notwendig, die tatsächliche Begebenheiten 1:1 zu erkennen. Entscheidend ist stattdessen die Funktionalität auf ihre Zielsetzung: die für das prinzipielle Überleben notwendige Orientierung zu gewährleisten. Eventuelle Angleichungen werden im Gebrauch selbst im Hinblick auf eben diese Funktionalität übernommen.[12] Gerade dies entspricht dem Funktionsmuster von Komplexitätsreduktion, bei der es nicht auf eine umfassende Erkenntnis als solche sondern Funktionalität im Hinblick auf Orientierung geht. Am Anfang der Komplexitätsreduktion steht eine willkürliche Setzung und alle folgenden Komplexitätsreduktionen basieren letztendlich auf dieser Setzung als rein funktionale Präzisierung. Um hier auf das Eingangsproblem der Eindeutigkeit zurückzukommen: Gerade eben diese fehlende Eindeutigkeit steht als Grundproblem hinter dem Risiko und der Komplexitätsreduktion als Lösung, dieses Risiko zu verringern. So bewirkt die obige Handhabungsform des Risikos genau das Gegenteil von dem was sie erreichen will. Je höher die Komplexität desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, das eine derartige Suche nach Eindeutigkeit ad absurdum geführt wird. Beim ständigen Scheitern in der fehlenden Eindeutigkeit die Eindeutigkeit zu erkennen wird Realität als ständige Krise erlebt. Anstatt das Bedürfnis nach psychologischer Kompensation von Risiko zu befriedigen wird es noch zusätzlich verstärkt.
------------------------------------------------------------------ 10 Blumenberg Arbeit am Mythos, S. 9. 11 von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, S. 13) 12 Im Konstruktivismus wird die mit dem Begriff Viabiliät bezeichnet. Ausführlicher hierzu: von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, S. 19 ff) |
Welche Prognose für ein Ordnungsdenken der digitalen Gesellschaft können aus den obigen Punkten gezogen werden? Komplexität manifestiert sich hier in Form von Unmengen an verfügbaren Informationen auf die man über eine große Zahl von Medien zugreifen kann. IT-Pionieren wie Vannevar Bush, Douglas C. Engelbart und Ted Nelson wiesen zur Lösung des Komplexitätsproblems immer wieder auf die Überlegenheit von mathematikbasierten Datenverarbeitungssystemen hin.[13] Schon der Chemiker Laplace behauptete frech [das Leben, das Universum und der gesamte Reste] seien berechenbar. Das Problem sei lediglich die fehlende Rechenkapazität (Im 19. Jhd. waren eben jede Art von Computer noch in ganz weiter Ferne).[14] Glaubt man beispielsweise Berichte über Verantwortliche wie Uwe Weiss von Blue Yonder, dann treffen IT-Ordnungssysteme angeblich punktgenaue Vorhersagen zum Kaufverhalten von potentiellen Kunden von Versandhandel und Drogerieartikeln.[15] Ein kleiner Fehler in den Algorithmen von Google weist auf die Grundlagen der Problematik hin. Gibt man bei Google-Bilder den Suchbegriff "Konzentrationslager" ein, so erhält man folgendes Ergebnis: Zwischen den üblichen SW-Fotos mit Stacheldraht und Leichenbergen ist das Bild von einem Koala-Bären. Dem Rechner abstraktes Denken und Intuition beizubringen stellt ein Problem dar. IT-Ordnungssysteme arbeiten sich zwar brav an ihren Suchbegriffen ab, können aber nicht eigenständig erkennen was für jedes menschliche Gehirn geradezu selbstverständlich ist: Dass Koalas und Völkermord normalerweise nichts miteinander zu tun haben. Entsprechende Probleme treten proportional zur Komplexität der Suchanfrage und des Suchmaterials auf. Sand im Getriebe dessen Eigendynamik die Frage aufwirft wie repräsentativ entsprechende Suchergebnisse sind. |
![]() Trotz solcher Bedenken halten sich die Mythen von der Berechenbarkeit der Welt hartnäckig. Gerade die Bestimmtheit (manchmal sogar Überheblichkeit) mit der diese Idee vorgetragen wurde (und aktuell immer noch wird) sagen viel über die Beziehung des Menschen zur Komplexität und über ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle aus im Hinblick auf eine potentiell übermächtige Komplexität. Allgemein werden hier aber Ängste vor fehlender Kontrolle bzw. Kontrollverlust gegenüber dem Datentsunami Internet bedient, also psychologische Kompensation von Komplexität und daraus resultierendem Risiko, die letztendlich mehr Sicherheit versprechen als sie tatsächlich ermöglichen. Die Reaktion hierauf ist Betriebsblindheit oder Leugnung nach dem altbekannten Motto "Es kann nicht sein was nicht sein darf". Hinsichtlich der letzten Wirtschaftskrise diagnostizieren Dröge, dass "nicht eigentlich die Modelle sich verselbstständigt haben, sondern eher der Glaube an sie. […] Man wollte glauben, dass es so eintritt, weil damit das Versprechen auf sonst unerreichbare Profite verbunden war."[16] ------------------------------------------------------------------ 13 Ausführlicher hierzu: Porombka: Hypertext, S. 28 ff. 14 Porombka: Hypertext, S. 118. 15 Müller, Martin U.; Rosenbach, Marcel, Schulz, Thomas 2013: Die gesteuert Zukunft. S. 67. |
Wie bereits erwähnt geht es in der Kunst darum aktuelles Zeitgeschehen auszuloten.1 Gesellschaftliche Problemdiagnosen aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen können eine mögliche Grundlage für Kunst bieten. Die Theorie kann aber nur ein grobes Raster sein und als Inspiration dienen um Denkmuster zu hinterfragen und Problemszenarien durchzuspielen. Weil gerade Schnelllebigkeit ein wesentlicher Teil des Komplexitätsproblems ist, wird gerade im Hinblick hierauf die Schwerfälligkeit und fehlende Flexibilität von wissenschaftlichen Analysen zum Problem. Mit anderen Worten: Man muss Godzilla aufmarschieren lassen um ein Dixieklo einzustampfen. Auch die Handhabung eines solchen Theoriekonvoluts birgt kein unerhebliches Problem. Um beim Vergleich mit großen Echsen zu bleiben: Als wollte man einen Brontosaurier mittels Tritten auf den Schwanz durch eine enge Gasse bugsieren. In der Debatte Flexibilität vs. Exaktheit kann Kunst andere Ergebnisse produzieren als Wissenschaft. Alternative Sichtweisen, die aus einer wissenschaftlichen Perspektive so nicht möglich wären. Was Problemlösungsstrategien im Umgang mit Komplexität angeht, kann, wie bereits oben dargelegt, ein allgemeiner Rückfall in positivistisches Denken diagnostiziert werden. |
![]() Durch den unabhängiger Blick bleibt in der Kunst auch diese aktuelle Betriebsblindheit außen vor. Beispielswiese kommen Konzepte und Arbeiten in der Kunst und Literatur der 70er Jahre wie "Das Gespräch der drei Gehenden" von Peter Weiss und die Materialbände "Erkundungen", "Rom, Blicke" und "Schnitte" von Rolf Dieter Brinkmann dem menschlichen Denken näher als Konzepte der IT-Branche. Sie waren und sind aus heutiger Sicht ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. ------------------------------------------------------------------ 16 Dröge: Auf ein Modell hundert Prozent vertrauen? Dann wärs ja die Wirklichkeit. In: Honegger, Neckel, Magnin (Hgg.): Strukturierte Verantwortlichkeit. Berichte aus der Bankenwelt, S. 50. 17 Vgl. Ankersen: "Ein Querschnitt durch unsere Lage" Die Situation und die schwedische Prosa von Peter Weiss. S. 154 f |
Literatur:
Ankersen, Wiebke Annik 2000: "Ein Querschnitt durch die Lage". Die Situation und die schwedische Prosa von Peter Weiss. St. Ingbert. Blumenberg, Hans 1979: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M.. Bolz, Norbert 1992: Die Welt als Chaos und als Simulation, München. Brinkmann, Rolf Dieter 1997: Rom, Blicke. Reinbek. Brinkmann, Rolf Dieter 1988: Schnitte. Reinbek. Brinkmann, Rolf Dieter 1987: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Reise Zeit Magazin. Reinbek. Dröge, Kai 2010: Auf ein Modell hundert Prozent vertrauen? Dann wärs ja die Wirklichkeit. In: Honegger, Neckel, Magnin (Hgg.): Strukturierte Verantwortlichkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Frankfurt a. M. S. 47-53. Glasersfeld, Ernst von 2006: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich: Einführung in den Konstruktivismus. München. S. 9-39. Klappert, Annina 2006: Die Perspektive von Link und Lücke. Sichtweisen auf die Texte Jean Pauls und Hypertexte. Bielefeld. Luhmann, Niklas 1987: Soziale Systeme. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas 1993:Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt a. M. Luhmann Niklas 1981: Soziologische Aufklärung 5. Opladen. |
![]() Porombka, Stephan 1999: Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos. München. Weiss, Peter 1991: Das Gespräch der drei Gehenden. In: Derselbe: Werke 2. Frankfurt S.295-344. |